Hilfe bei Schulstress – Interview mit Klaus Seifried
Abi, Studium, Traumjob – so sieht das Lebensziel vieler junger Menschen aus. Doch um welchen Preis? Schülerinnen und Schüler setzen sich schon in jungen Jahren so unter Druck, dass Schulstress zu ihrem täglichen Begleiter wird. In unserem Interview gibt Klaus Seifried, Schulpsychologe i. R., Tipps, wie Eltern ihre Kinder aus der Stressfalle holen können.
Drei Viertel der Schülerinnen und Schüler fühlen sich mindestens einmal pro Woche von der Schule gestresst. Das haben zumindest die vom Meinungsforschungsinstitut forsa in unserem Auftrag zum Thema Schulstress befragten Kinder und Jugendlichen gesagt. Ist Stress modern oder haben die jungen Leute tatsächlich Druck?
Klaus Seifried: Stress ist zum Modewort geworden. Wenn etwas anstrengend wird, sprechen viele von Stress. Etwas zu lernen, ist aber durchaus auch anstrengend. Positiver Stress bringt uns zu Höchstleistungen bei Prüfungen oder im Sport. Negativer Stress hingegen entsteht durch Überforderung und Konflikte. Er kann zu Erschöpfung, Versagensängsten und psychosomatischen Erkrankungen führen. Nicht alle Kinder und Jugendlichen sind gleichermaßen belastet. Ungefähr zehn Prozent haben kein Interesse an der Schule, geben auf und erreichen keinen Schulabschluss. Allerdings können derartige Misserfolgserlebnisse Frustrationen und emotionale Belastungen auslösen. Andere wiederum schlängeln sich mit minimalem Aufwand durch die Schule. Freunde und Freizeitinteressen sind wichtiger als Schule. Beim Großteil der Schülerinnen und Schüler steigt der Druck aber.
Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts forsa in unserem Auftrag hat gezeigt, dass die jungen Leute sich selbst extrem unter Druck setzen.
Klaus Seifried: Viele Kinder übernehmen den Erwartungsdruck ihrer Eltern. Die Eltern wissen, dass die Leistungsanforderungen in vielen Berufen steigen. So braucht man für eine Ausbildung als Bankkauffrau heute das Abitur, als Mechatroniker in einer Kfz-Werkstatt mittlerweile den Realschulabschluss. In vielen Studienfächern gibt es Zugangsbeschränkungen. Das setzt auch leistungsstarke Schülerinnen und Schüler sehr unter Druck. Eltern erwarten von ihren Kindern häufig, dass sie den sozialen Status halten oder sogar verbessern. Sie können schlecht akzeptieren, dass ihr Kind in der Schule Schwächen zeigt, auch wenn es sich anstrengt.
73 Prozent der Mädchen sagen, sie haben Stress, weil sie sich selbst unter Druck setzen. Bei den Jungen sagen dies 20 Prozent weniger. Woher kommt diese große Differenz?
Klaus Seifried: Mädchen sind häufig angepasster. Sie lernen mehr und machen bessere Schulabschlüsse. Ich habe junge Frauen erlebt, die kurz vor dem Abitur standen und in eine massive Krise gerieten, weil sie das Abitur nicht mit 1,0 schaffen. Bei Jungen werden Regelverletzungen, also auch schlechte Noten, nach wie vor eher akzeptiert.
Sie glauben also, dass der Druck, den sich die Jugendlichen machen, indirekt aus der Gesellschaft, aus Elternhaus und Schule, kommt?
Klaus Seifried: Eltern und Lehrkräfte müssen Anforderungen stellen, um die Kinder und Jugendlichen zum Lernen und zur Leistung zu motivieren. Es ist aber wichtig, die Stärken eines Kindes zu fördern, Schwächen zu akzeptieren und sie nicht zu überfordern. Überforderung löst Versagensängste aus und mindert die Leistungsfähigkeit.
Nun zeigen Kinder und Jugendliche unterschiedliche Stresssymptome. Wie erkenne ich denn als Mutter oder Vater, ob mein Kind überlastet ist?
Klaus Seifried: Manche Kinder werden laut, wütend oder aggressiv, wenn Eltern nach den Leistungen in der Schule fragen oder Anforderungen an sie herangetragen werden. Andere ziehen sich zurück, werden still, wollen ihre Freunde nicht mehr treffen, lenken von Schulthemen ab. Das steigert sich bis hin zu Schlafstörungen, psychosomatischen Beschwerden oder Schuldistanz. Diese Kinder entwickeln massive Versagensängste und wollen nicht mehr in die Schule gehen. Wichtig ist, dass Eltern sich Zeit für ihr Kind nehmen, versuchen über Probleme in der Schule zu sprechen und sich auch vom Klassenlehrer beraten lassen. In schweren Fällen können Schulpsychologen helfen.
Wenn Eltern diese Anzeichen beobachten, wie können sie dann konkret helfen? Gibt es Hilfe bei Schulstress?
Klaus Seifried: Wichtig ist, dass Eltern sich Zeit für ihr Kind nehmen, versuchen über Probleme in der Schule zu sprechen und sich auch vom Klassenlehrer beraten lassen. In schweren Fällen können Schulpsychologen helfen. Niemand von uns ist in allem gut, jeder hat nur wenige Stärken. Aber wir sind darauf getrimmt, die Defizite zu sehen. „In Deutsch bist du gut, aber …“ Das muss man umkehren und das Kind für seine Stärken und Erfolge loben, Fehler und Schwächen aber akzeptieren. Eltern sollten mit ihrem Kind realistische, machbare Ziele entwickeln, damit das Kind in der Schule Erfolge spürt. Erfolge sind die beste Leistungsmotivation. Viele Kinder und Jugendliche brauchen eine regelmäßige Alltagsstruktur und Ordnung: Wann mache ich meine Hausaufgaben? Ist mein Schreibtisch aufgeräumt? Habe ich die Arbeitsblätter von gestern schon einsortiert? Welchen Unterricht habe ich morgen? Ist meine Schultasche schon gepackt? In welchem Fach kann ich am einfachsten meine Leistungen verbessern? Kann ich mich auf den Unterricht besser vorbereiten und mich mehr beteiligen?
Entscheidend ist, dass Eltern sehen, ob ihr Kind sich anstrengt und trotzdem nur schlechte Leistungen erbringt. Dann braucht es Akzeptanz, Unterstützung und eventuell eine Lerntherapie. Oder ob das Kind nur keine Lust hat und sich nicht anstrengen will. Dann sollten Eltern überlegen, wie sie ihrem Kind mehr Verantwortung geben können, Verantwortung für Pflichten im Haushalt und in der Schule. Viele Eltern verwöhnen ihre Kinder und nehmen ihnen die Verantwortung für viele Dinge ab.
Kinder und Jugendliche erwarten Unterstützung von den Eltern in stressigen Situationen – laut unserer Umfrage selbst zum Ende der Pubertät noch. Auch von den Lehrkräften wünschen sie sich diese Unterstützung. Überrascht sie das?
Klaus Seifried: Nein. Es ist ein gutes Zeichen, wenn Kinder und Jugendliche zu ihren Eltern und Lehrkräften Vertrauen haben und sich bei Problemen an sie wenden. Für viele Jugendlilche ist die Peergroup zwar wichtig, aber wenn es um schulische Fragen geht, dann sind und bleiben Eltern und Lehrkräfte wichtigste Stützen und Ratgeber.
Vielen Dank für das Gespräch!
Unser Experte:
Klaus Seifried ist Psychologe, Psychotherapeut und Lehrer sowie Schulpsychologiedirektor im Ruhestand. Bis 2016 leitete er ein großes Beratungszentrum in Berlin. Seit seiner Pensionierung ist er freiberuflich tätig und im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen aktiv.
In unserer kostenlosen Broschüre Schluss mit dem Schulstress! geben wir Tipps, wie Eltern ihre Kinder unterstützen können, wenn sie unter Schulstress leiden.