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Halbjahreszeugnisse in Corona-Zeiten. Wie aussagekräftig sind die Noten?

Seit Mitte Dezember lernen Kinder und Jugendliche in Deutschland wieder im Distanzunterricht – obwohl noch längst nicht alle Wissenslücken aus dem ersten Lockdown aufgearbeitet sind. Wie sich die neuen Schulschließungen auf die Halbjahreszeugnisse auswirken und warum aussagekräftige Noten gerade jetzt besonders wichtig für den Lernerfolg wären, erklärt Henri Tomic, Pädagogischer Leiter LRS/Dyskalkulie in der Region Augsburg und Leiter des Studienkreises Augsburg-Göggingen im Interview.

Studienkreis-Leiter Henri Tomic

Herr Tomic, seit Mitte Dezember sind die Schulen wieder im Lockdown. Welche Auswirkungen hat das auf die Halbjahreszeugnisse?

Wegen des ersten Lockdowns waren die Zeugnisse am Ende des letzten Schuljahres kaum aussagekräftig. Deshalb hätten die anstehenden Halbjahreszeugnisse eigentlich eine große Bedeutung gehabt – als erster aussagekräftiger Leistungsnachweis seit dem Beginn der Corona-Krise. Aber durch den erneuten Lockdown werden die Noten im Halbjahreszeugnis doch nicht so aussagekräftig sein wie erhofft. Besonders hart trifft das Schülerinnen und Schüler, die im letzten Schuljahr nur auf Probe versetzt wurden. Die Halbjahreszeugnisse sollten zeigen, ob sie in der neuen Jahrgangsstufe gut aufgehoben sind, aber es ist unklar, wie es nun für sie weitergeht.

Insgesamt beobachten wir eine große Unsicherheit, weil keine Leistungsüberprüfungen stattfinden. Den Schülerinnen und Schülern fällt es sehr schwer, selbst einzuschätzen, wo sie stehen. Das wäre aber wichtig für sie, um zu entscheiden, in welche Themen sie besonderen Lernaufwand investieren sollten. Gleichzeitig dämpft diese Unsicherheit ihre Lernmotivation. Im normalen Präsenzunterricht gibt es im laufenden Schuljahr immer wieder kleinere Leistungsüberprüfungen, auf die sie sich gezielt vorbereiten. Das wirkt auch als Anreiz, weil sie sich dann selbst beweisen können, dass sie ein Thema verstanden haben. Ohne die Aussicht auf eine Bewertung fällt dieser Anreiz weg.

Wie wirken sich Corona-Pandemie und Homeschooling auf den Nachhilfeunterricht aus?

Die Schülerinnen und Schüler kommen mit einem anderen Lernbedarf als vor der Corona-Krise. Vorher ging es meistens darum, in der Nachhilfe das Gelernte zu üben und anzuwenden. Jetzt ist der Bedarf nach Erklärung, Erläuterung, Einführung in Themen viel höher. Wir hatten hier im vergangenen Halbjahr Jugendliche, die sich auf Klassenarbeiten zu Themen vorbereiten mussten, die nie im Präsenzunterricht vermittelt wurden. Sie wussten zum Teil noch nicht einmal genau, worum es gehen sollte.

Welche Unterstützung bekommen die Kinder und Jugendlichen von den Schulen?

Die Unterstützung ist von Schule zu Schule und Lehrkraft zu Lehrkraft sehr unterschiedlich. Bei einigen kommt per Post ein Stapel Arbeitsblätter, die Ergebnisse werden nie kontrolliert. Andere Schulen arbeiten mit Chats und Videokonferenzen. Sie stellen Arbeitsblätter online zur Verfügung, geben aber auch kaum individuelles Feedback. Oft werden die Lösungen gleichzeitig mit den Aufgaben hochgeladen. Schülerinnen und Schüler, die sich schwer motivieren können, schreiben die Lösungen dann einfach ab und lernen kaum dazu.

Zum Teil gibt es auch kaum direkten Kontakt zu den Lehrerinnen und Lehrern. Selbst wenn die Jugendlichen wirklich ihre Aufgaben bearbeiten wollen – wenn niemand für Rückfragen zur Verfügung steht, kommen sie bei Verständnisproblemen einfach nicht weiter. Es gibt aber auch Schulen, die das sehr gut lösen und zum Beispiel online oder telefonisch regelmäßige Sprechstunden anbieten. Insgesamt hat sich seit dem ersten Lockdown wenig verändert.

Wie kommt es, dass einige Schülerinnen und Schüler im Homeschooling stärker als andere zurückfallen?

Normalerweise ist Differenzierung eine wichtige Aufgabe von Lehrkräften: Sie passen den Stoff und die Aufgaben an die einzelnen Lernenden an und geben bei Bedarf zum Beispiel zusätzliche Lernangebote oder Hilfen. Im Homeschooling können die Lehrkräfte aber nicht mehr so gut auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingehen. Dadurch bleiben einige beim Lernen zurück. Nach dem ersten Lockdown sind viele Schülerinnen und Schüler zu uns gekommen, die sonst vielleicht keine Nachhilfe in Anspruch genommen hätten. Besonders schwierig ist die Situation für diejenigen, die auch vorher schon Lernschwierigkeiten oder auch zum Beispiel eine Lese-Rechtschreibschwäche hatten.

Nach den ersten Schulschließungen sind auch zunehmend Kinder im Grundschulalter in die Nachhilfe gekommen. Nicht allen Eltern gelingt es gleich gut, sie zuhause aufzufangen und den Unterricht zu ersetzen. Vielen macht diese Verantwortung auch Angst.

Lernen zu Hause kann schwierig sein

Ist es inzwischen gelungen, die Wissenslücken aus dem ersten Lockdown zu schließen?

Das ist sehr individuell. Die Lücken sind ja über einen sehr langen Zeitraum entstanden – im Durchschnitt waren die Schulen letztes Jahr 17 Wochen lang geschlossen. Es braucht Zeit, Lücken zu schließen, die über so einen langen Zeitraum entstanden sind. Das Problem ist, dass in vielen Fächern der Stoff aufeinander aufbaut. Wer in der 7. Klasse die linearen Gleichungen nicht verstanden hat, kommt auch später mit quadratischen Gleichungen nicht zurecht. So entstehen immer wieder neue Lücken, während man versucht, die alten zu schließen.

Andere Schülerinnen und Schüler fanden nach dem ersten Lockdown nur mühsam wieder in den normalen Lernrhythmus zurück, weil ihnen die ständige Übung fehlte. In Mathematik fielen ihnen so grundsätzliche Fertigkeiten wie Kopfrechnen schwerer. In den Fremdsprachen hatten sie Vokabeln vergessen oder die Grammatik saß nicht mehr richtig. Und kaum ein Kind spricht während der Schulschließungen selbst Englisch – bis auf die wenigen, die richtigen Online-Unterricht erhalten.

Wie gut gelingt es, die coronabedingten Lücken mit Nachhilfe zu schließen?

Bei vielen Kindern gelingt das gut. Einige haben nach den ersten Schulschließungen wieder den Anschluss gefunden. Bei Schülerinnen und Schülern, die selbstständig und motiviert arbeiten können und vor allem fachliche Unterstützung brauchen, ist der Lernzuwachs groß. Schwieriger ist es bei Kindern und Jugendlichen, die eher pädagogische Unterstützung benötigen, weil ihnen das selbstständige Lernen und die Disziplin schwerfallen. Sie können nicht mal schnell zu Hause ein Buch durchlesen und verstehen, deshalb brauchen sie mehr Hilfestellung. Wir befürchten, dass infolge der Corona-Schulschließungen die Spaltung weiterwächst.

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