„Viel mehr Eltern streben heute hohe Bildungsabschlüsse für ihre Kinder an“
Im Nachhilfeunterricht gelingt häufig, was in der Schule nicht immer klappt: Die Schülerinnen und Schüler verstehen die Lerninhalte und erreichen gute Noten. Eiko Jürgens, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld, hat viel zu Nachhilfeunterricht geforscht. Im Interview erklärt er, wieso Nachhilfe wirksam ist, wenn in der Schule die Lernerfolge ausbleiben – und welchen Blick der Schule auf die Nachhilfe er sich wünscht.
Welche Faktoren tragen dazu bei, dass Nachhilfe funktioniert?
In der Nachhilfe wirken sich Faktoren positiv aus, die in der Schule kaum zum Tragen kommen. Zunächst einmal ist da die Eins-zu-Eins-Betreuung. Selbst wenn Nachhilfe in einer kleinen Gruppe stattfindet, sind die Gruppen meistens so heterogen in Bezug auf die Klassenstufen und die Fächer, dass man eigentlich auch von Einzelbetreuung sprechen kann. Dadurch ist eine ganz andere Art von Beziehung möglich: Da ist jemand, der Hilfe sucht, und jemand, der welche anbietet. Beide haben ein gemeinsames Ziel und schließen ein Arbeitsbündnis. Beide wollen schnell Vertrauen und ein gutes Arbeitsverhältnis aufbauen. Das ist ein großer Unterschied zur Schule. In unseren Befragungen von Nachhilfeschülerinnen und -schülern haben viele berichtet, dass sie sich in der Schule gar nicht mehr beachtet fühlten. Die Lehrkräfte haben völlig an ihnen vorbei unterrichtet. Das ist auch empirisch gut belegt: Lehrkräfte arbeiten im Unterricht hauptsächlich mit den stärkeren Schülerinnen und Schülern. Das macht es für die Schwächeren, die ja eigentlich mehr Hilfe brauchen, besonders schwer. Deshalb wirkt sich die Eins-zu-Eins-Betreuung in der Nachhilfe sehr positiv aus: Da ist eine Person mit einem echten Interesse daran, dass der Schüler oder die Schülerin beim Lernen Fortschritte macht. Das trägt zur Wirksamkeit von Nachhilfe bei.
Gibt es weitere Unterschiede zwischen den Lernsituationen in der Schule und der Nachhilfe?
In der Schule findet außerdem fast immer eine Bewertung statt. Viele Kinder und Jugendliche haben Angst, sich mündlich zu beteiligen, weil sie etwas Falsches sagen und dafür eine schlechte mündliche Note bekommen könnten. Diese Beurteilungs- und Benotungspraxis an Schulen ist nicht förderlich für das Verhältnis zwischen den Lehrkräften und den Lernenden. In der Nachhilfe sind die Kinder und Jugendlichen nicht einer ständigen Bewertung ausgesetzt. Das ist gut für die Beziehung zur Nachhilfelehrkraft und nimmt viel psychischen Druck aus dem Lernprozess.
Ein weiterer Grund, warum Nachhilfe häufig wirksam ist, ist das Wechselspiel aus Kurzzeithilfe und dem Nachholen von lange zurückliegenden Lerninhalten. Die meisten Schülerinnen und Schüler brauchen erst einmal sehr schnell Hilfe, wenn sie in die Nachhilfe kommen, man könnte auch sagen: Notfallhilfe. Oft ist entweder die Versetzung gefährdet oder sie haben Sorge, dass sie wegen einer schlechten Note den gewünschten Zeugnis- oder Abiturdurchschnitt verpassen. Deshalb beginnt die Nachhilfe meistens mit der Vorbereitung auf die nächste Klassenarbeit. Aber darüber hinaus findet auch etwas statt, das in der Fachdidaktik als besonders wichtig gilt: Man geht im Lernprozess zurück und deckt auf, wo die Fehler entstanden sind, die der Schüler oder die Schülerin zum Teil schon seit Jahren mitschleppt. Das hilft nicht nur, um die verpassten Lerninhalte nachzuholen, sondern stärkt auch das Arbeitsbündnis mit der Nachhilfelehrkraft: Die Jugendlichen verstehen Dinge, die sie in der Schule nicht verstanden haben, und trauen sich wieder mehr zu. Das gilt übrigens nicht nur für die institutionalisierte Nachhilfe. Auch wenn die ältere Schülerin von nebenan Nachhilfe erteilt, spielen diese Faktoren eine Rolle und tragen zum Lernerfolg bei.
Vor 50 Jahren haben die ersten institutionalisierten Nachhilfeanbieter ihre Arbeit aufgenommen. Welche gesellschaftlichen und bildungspolitischen Entwicklungen haben sich seitdem auf die Rolle und die Wahrnehmung von Nachhilfe ausgewirkt?
Viel mehr Eltern streben heute hohe Bildungsabschlüsse für ihre Kinder an. Das ist nicht überraschend, weil über die Bildungsabschlüsse in Deutschland noch immer eine soziale Selektion stattfindet. Da möchte natürlich niemand zu den Verlierern zählen. Ein hoher Bildungsabschluss ist die eine gute Voraussetzung, um im Beruf erfolgreich zu sein. Außerdem gilt mangelnde Bildung als Problem für die Gesellschaft. Dementsprechend müssten immer mehr Menschen eine höhere Bildung haben, das ist eine Forderung aus der Elternschaft und der Gesellschaft gleichermaßen. Aber die Ausbildung der Lehrkräfte hat sich nicht an diese Forderung angepasst, die Bildungspläne sind nicht gut geeignet, um Integration bzw. Inklusion zu betreiben. Wer sich in diesem System nicht gut aufgehoben fühlt, findet in der Nachhilfe Unterstützung.
Es gibt auch viele Schülerinnen und Schüler, die gar keine schlechten Noten haben und trotzdem Nachhilfe nehmen. Sie sind vielleicht ursprünglich gekommen, um von einer Fünf wegzukommen. Aber nun stehen sie auf Drei und finden, dass es ihnen noch immer guttut, eine enge Ansprechperson zu haben, die sie beim Lernen begleitet und ihnen wohlgesinnt ist.
Hat sich auch die Wahrnehmung von Nachhilfe verändert?
Nachhilfe – ich sage eigentlich lieber „Lernhilfe“ – ist heute gesellschaftlich stärker akzeptiert als damals. Früher war es viel verpönter, Nachhilfe zu nehmen. Noch 2007 haben wir in einer Studie mit dem Studienkreis herausgefunden, dass knapp 70 Prozent der befragten Nachhilfeschülerinnen und -schüler eine Zusammenarbeit zwischen der Nachhilfelehrkraft und der Schule nicht wünschten, weil sie befürchteten, dass es in der Schule nicht gut ankommt, wenn sie Nachhilfe nehmen. So etwas ist sehr bedauerlich, weil Nachhilfe am besten gelingen kann, wenn Schule und Nachhilfeanbieter zusammenarbeiten. Fast alle Schülerinnen und Schüler nehmen irgendwelche Lernhilfen außerhalb der Schule in Anspruch, einige lernen mithilfe von KI oder Videos aus dem Internet, anderen hilft unentgeltlich jemand, und einige nehmen eben bezahlte Nachhilfe. Es gibt also ohnehin keine „reine“, ohne jegliche außerschulische Hilfe erreichte Leistung. Alle Schülerinnen und Schüler lernen, indem sie Informationen aus verschiedenen Quellen verarbeiten. Das ist selbstständiges, eigenverantwortliches Lernen, das für Bildungsprozesse so wichtig ist.
Ich finde es wichtig, dass es Kindern und Jugendlichen in der Schule nicht als Nachteil ausgelegt wird, wenn sie Nachhilfe nehmen. Wer zum Beispiel über das Bildungs- und Teilhabepaket Nachhilfe finanziert, ist gezwungen, das in der Schule mitzuteilen – die Lehrkräfte müssen ja bestätigen, dass das Kind Nachhilfe braucht. Es wäre absurd, wenn sie dadurch in der Schule Schwierigkeiten bekämen.
Müsste es dem Schulsystem nicht gelingen, alle Kinder so gut auszubilden und zu fördern, dass keine Unterstützung von außen nötig ist?
Eigentlich ist Nachhilfe nicht im Schulsystem vorgesehen, das stimmt. Aber dieser Anspruch ist aktuell aus vielen Gründen nicht realistisch. Es geht schon damit los, dass Hausaufgaben eigentlich so gestellt werden müssten, dass jedes Kind sie allein lösen kann. Die Realität ist aber, dass viele Kinder und Jugendliche Hilfe dabei brauchen. Und dass sie mit schlechten Noten rechnen müssen, wenn sie anstelle der Hausaufgaben nur in ihr Heft schreiben: „Ich mache meine Hausaufgaben mit Unterstützung in der Schule fertig.“ Die Unterstützung von Eltern oder weiteren Familienmitgliedern wird also zu einem gewissen Grad vorausgesetzt, und Nachhilfe ist eine Form davon. Es können ja nicht alle Eltern selbst unterstützen. Selbst wenn sie Zeit und die nötigen Kenntnisse haben, führt das häufig zu Verstimmungen, Konflikten oder gar Streit.
Es ist nicht ganz einfach zu ermitteln, wie viele Schülerinnen und Schüler Nachhilfe nehmen, weil viel davon informell stattfindet und zum Beispiel nicht in Marktanalysen berücksichtigt wird. Aus Befragungen wissen wir aber, dass rund 70 Prozent ehemaliger Schülerinnen und Schüler zum Beispiel angeben, im Lauf ihrer kompletten Bildungslaufbahn einmal Nachhilfe in Mathematik besucht zu haben. Das ist ein hoher Anteil. Die Schule sollte anerkennen, dass da noch andere sind, die sich für die persönliche und schulische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen einsetzen.
Inwiefern fördert Nachhilfe die persönliche Entwicklung – und nicht nur die schulischen Leistungen?
Ich bin überzeugt, dass Nachhilfe viel erreicht, auch jenseits der Noten. Für eine Studie haben wir in Nachhilfestunden im Studienkreis hospitiert und mit den Lehrkräften und Jugendlichen gesprochen. Da wurde sehr deutlich, dass die Nachhilfe auch das Selbstbewusstsein der Schülerinnen und Schüler gestärkt hat – das belegen auch weitere Studien. Zum Beispiel haben sich einige Schülerinnen und Schüler zum ersten Mal wieder getraut, sich in der Schule zu melden. Sie sind wieder sichtbarer geworden. Das passiert nicht nur, weil sie die Lerninhalte besser verstehen, sondern auch, weil sie eine Person an ihrer Seite hatten, die ihnen immer wieder Mut gemacht hat.