Helikopter-Eltern: „Wichtig ist, dass die Kinder wieder ins Tun kommen“
Helikopter-Eltern setzen alles daran, dass ihre Kinder glücklich werden – und vergessen dabei, dass Kindererziehung auch viel mit Loslassen zu tun hat. Die Münchner Paar- und Familientherapeutin Anette Frankenberger erklärt im Interview, was Eltern zur Überfürsorge treibt und wie sie ihr Helikopter-Verhalten ablegen können.
Annette Frankenberger im Interview über Helikopter-Eltern
Was zeichnet Helikopter-Eltern aus?
Der Begriff „Helikopter-Eltern“ sagt es schon aus: Die Eltern kreisen über ihren Kindern und überwachen alles. Ich verwende lieber den weniger bekannten Begriff „Curling-Eltern“. Darin steckt das Bild, dass die Eltern wie im Curling mit ihren Besen vor dem Kind hin und her wedeln, um ihm alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Leider ist die Annahme völlig falsch, dass Kinder glücklicher werden, wenn sie nie ein Hindernis überwinden oder Frust aushalten müssen.
Ist das eine neue Entwicklung?
Das Thema ist vor 15 oder 20 Jahren aufgekommen. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass Paare heute weniger und später Kinder bekommen. Elternschaft ist ein sehr bewusst eingegangener und oft auch sehr herbeigesehnter Zustand. Deshalb soll es den Kindern unter allen Umständen gut gehen und die Eltern sind bereit, alles dafür zu tun.
Fürsorge ist eigentlich etwas Gutes. Wo hört angemessene Fürsorge auf und wo fängt das Helikopter-Verhalten bei Eltern an?
Ich halte es sehr mit dem Zitat von Maria Montessori: „Hilf mir, es selbst zu tun.“ Helikopter-Verhalten fängt da an, wo Eltern ihrem Kind Dinge abnehmen, die es eigentlich selbst können sollte. Sie nehmen ihm damit die Möglichkeit, wichtige Kompetenzen zu erwerben. Ein Kind, das ich immer auf den Baum hochhebe, wird nicht lernen, selbst hochzuklettern. So ist es auch in vielen anderen Lebensbereichen. Viele Kindertagesstätten beklagen, dass die Kinder nicht mehr mit Messer und Gabel essen können. Die Kinder werden zuhause lange gefüttert und bekommen danach alles in Häppchen oder als Fingerfood.
Was löst es in einem Kind aus, wenn die Eltern ihm alles abnehmen?
Das Kind lernt, dass es immer jemanden braucht, der ihm hilft. Außerdem lernt es, die Eltern als Bedienstete einzustellen. Irgendwann werden die Kinder zuhause tyrannisch. Sie haben eine niedrige Frustrationstoleranz, weil sie sich nie irgendwo durchbeißen oder Frust aushalten mussten. Draußen in der Welt sind sie eher ängstlich, weil sie nicht alles gelernt haben und sich ohne ihre Beschützer und Begleiter fürchten.
Was treibt Eltern dazu, ihren Kindern alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen?
In der ZEIT habe ich vor einigen Jahren ein Zitat gelesen, das Kinder als „Container des eigenen Glücks“ der Eltern bezeichnete – Eltern möchten, dass ihr Kind glücklich ist, denn dann sind auch sie glücklich. Glücklich wird dabei gleichgesetzt mit „niemals frustriert sein“. Aber es dauert zum Beispiel, bis Kinder lernen, ihre Schnürsenkel zu binden, das ist ja eine feinmotorische Meisterleistung. Da kann schon mal Frust entstehen, manche Kinder werden zornig, werfen mit den Schuhen oder beschimpfen ihre Eltern. Dann knicken viele Eltern ein und denken „Oh je, mein Kind ist so frustriert und könnte einen Schaden davontragen. Dann binde ich ihm eben die Schuhe, damit es glücklich ist.“
Kann man klar abgrenzen, welche Mütter und Väter Helikopter-Eltern sind?
Nein, die Übergänge sind fließend. Der israelische Psychologe Haim Omer erklärt an einem Beispiel drei Stufen von Aufmerksamkeit: Nehmen Sie an, Ihre Kinder spielen auf dem Spielplatz. Sie sitzen dort auf einer Bank und lesen Zeitung, haben aber ein Ohr auf den Spielplatz ausgerichtet. Ihren Kindern signalisiert das: Ich habe euch im Blick, aber ihr könnt erst einmal tun, was ihr wollt. Dann folgt die zweite Stufe: Sie hören, dass ein Streit entsteht und beobachten zunächst, ob die Kinder das Problem allein lösen können. Überfürsorge wäre, wenn Sie an diesem Punkt nicht abwarten können, sondern sofort eingreifen. Dann nehmen Sie dem Kind diese Erfahrung. Erst wenn Sie sicher sind, dass die Kinder ihr Problem nicht allein lösen können, ist die dritte Stufe erreicht: Sie stehen auf und mischen sich ein. Diese halb zugewandte Aufmerksamkeit, in der Sie die Kinder im Blick haben, aber abwarten, die sollten Eltern aushalten können.
Wie zeigt sich Helikopter-Verhalten im Zusammenhang mit Schule?
Das zeigt sich zum Beispiel, wenn Eltern sich aufgefordert fühlen, die Hausaufgaben ihrer Kinder zu machen. Die Schule erwartet von ihnen aber nicht, Coach ihrer Kinder zu sein, im Gegenteil. Hausaufgaben sind für die Lehrkräfte ein Mittel, um herauszufinden, was ein Kind verstanden hat und was nicht. Bis zu einem gewissen Alter brauchen Kinder die Eltern als Takt- und Strukturgeber, aber nicht als diejenigen, die die Hausaufgaben für sie machen – oder permanent mit ihnen machen. Die Eltern sollten den Kindern zutrauen, das allein zu erledigen, und ihnen auch zumuten, mit nicht fehlerfreien Hausaufgaben in die Schule zu gehen.
Manche Eltern wissen, dass sie überfürsorglich sind. Wie können sie das ändern?
Wir sollten uns bewusst sein, dass Kindererziehung von Anfang an sehr viel mit Loslassen zu tun hat. Wenn Eltern merken, dass sie überfürsorglich sind, sollten sie das langsam zurückschrauben. Am besten geschieht das im Gespräch mit dem Kind: Diese Dinge wirst du ab jetzt selbst machen. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Bei Kindern, die sehr verwöhnt sind oder sehr nachgiebige Eltern haben, ist das ein längerer Prozess. Wichtig ist, dass die Kinder wieder ins Tun kommen.
Wie hat sich die Coronakrise auf Helikopter-Eltern ausgewirkt?
Für viele Helikopter-Eltern war die Homeschooling-Zeit sehr schwierig, weil sie sich in der Rolle der Lehrkräfte sahen und alles perfekt machen wollten. Ihnen fiel es schwer, den Kindern zuzumuten oder zuzutrauen, dass sie ihre Aufgaben allein erledigen. Gerade in der Pandemie wäre es aber wichtig gewesen, eine gute Mischung aus Präsenz und Gelassenheit zu entwickeln.
Was hat das bei den Kindern ausgelöst?
Viele dieser Kinder haben in der Pandemie komplett abgeschaltet. Die Eltern haben beklagt, dass die Kinder nun ihrer Jugend beraubt würden. Man kann es aber auch ganz anders sehen: als Herausforderung, in einer Krise neue Kompetenzen zu entwickeln, die vorher nicht so dringend gebraucht wurden – Durchhaltevermögen zum Beispiel.
Anette Frankenberger ist systemische Paar- und Familientherapeutin (DGSF)
seit 1994 in eigener Praxis.
Supervisorin und STEP – Trainerin (Systematisches Training für Eltern)
Tipps für Helikopter-Eltern: Unser E-Book „Vertrauen statt Kontrolle“
In Zeiten von Homeschooling und Wechselunterricht fanden sich Eltern unfreiwillig in der Rolle von Ersatzlehrern wieder. Nun fragen sie sich: „Wie viel Unterstützung benötigt mein Kind von mir und wie sollte die aussehen? Helfe ich womöglich mehr als gut ist?“ Antworten darauf gibt unser E-Book „Vertrauen statt Kontrolle – So finden Eltern aus der Helikopter-Falle“. Die Broschüre steht kostenlos als Download zur Verfügung.
„Vertrauen statt Kontrolle: Raus aus der Helikopterfalle!“ Über dieses Thema diskutierte Anette Frankenberger am 23. September 2021 mit Elternbloggerin Nina Massek und Moderator Ulrich Grünewald beim Studienkreis live auf Facebook: