Mythos Lerntypen
Vielleicht haben Sie schon einmal von Lerntypen gehört: Sie sind in der Pädagogik und der Lernberatungsindustrie ein stark verbreiteter Ansatz, seit Frederic Vester, ein Kybernetiker, in den 80er Jahren in seinem Buch „Denken, Lernen, Vergessen“ das erste Mal davon sprach.
Lerntypen: Was besagt der Ansatz?
Der Lerntypen-Ansatz geht davon aus, dass es individuelle Sinnesvorlieben bei der Informationsaufnahme innerhalb eines Lernprozesses gibt. „Visuelle Typen“ lernen daher am besten, wenn sie Informationen in Form von Texten erhalten, „auditive Typen“, wenn der Stoff im Gespräch oder mit passender Geräusch- und Tonkulisse vermittelt wird, „haptische Typen“, wenn die Information mit Bewegung und Anfassen verknüpft ist und „verbal-abstrakte Typen“, wenn sie sich verbal-geistig mit dem Stoff auseinandersetzen. Nun gebe es solche Typen nicht in Reinkultur, aber bei jedem von uns dominiere eine Ausprägung. Man könne dann das Lernen verbessern, wenn man den Lernstoff entsprechend darbietet, umgekehrt würden sich Lerndefizite mit dadurch erklären lassen, dass der dominierende Lernkanal nicht entsprechend angesprochen wurde. Lerntypentests, wie wir als Studienkreis sie auch selber angeboten haben, dienten einer wie wir heute wissen wenig validen Analyse der Defizite und sollten einen Ansatz zur Intervention im Nachhilfeunterricht bieten.
Wem nützt der Ansatz?
Solche Typenvorstellungen sind im Alltag recht praktisch, ordnen sie doch unser Zusammenleben und liefern uns Erklärungsmuster. Das erklärt auch die starke Verbreitung der Vorstellung, es gebe sie – die Lerntypen. Ratgeberliteratur, Berater, Lerncoachs, Nachhilfeeinrichtungen, Lerntherapeuten – für sie ist es auch zweckdienlich, eine solche Typologie zu verwenden, greift sie doch ein leicht nachvollziehbares Modell des Lernens beim Kunden auf.
Wie zutreffend ist der Ansatz?
Hat denn dieses Typenmodell wissenschaftlichen Bestand und ist daher als sinnvoll einzustufen? Hier ist das Ergebnis eher ernüchternd:
Pashler et al. (2009; Artikel als PDF) analysierten alle bis dahin vorhandenen Studien zu Lernstilen und mussten konstatieren, dass es in fast allen Studien an wissenschaftlichen Standards empirischer Forschung fehlte. Mit den wenigen Studien, die wissenschaftlich akzeptabel waren, ließ sich dagegen eine Lerntypologie nicht belegen.
Auch theoretisch ist es schwer anzunehmen, dass es gelingen kann, Lernarrangements auf Adressierungen spezieller Sinneskanäle auszurichten. Der Unterricht im Klassenraum wie das alltägliche Leben ist immer geprägt von diversen Sinneseindrücken: Das Schulbuch steht da genauso im Schulalltag wie der Tafelanschrieb, das Unterrichtsgespräch oder das Experimentieren mit greifbaren Dingen. Mal mehr, mal weniger – das hängt aber nicht vom Lerntyp ab, sondern davon, welcher Lerninhalt vermittelt werden soll. Mathematikgleichungen sind visuell. Man kann sie auch aussprechen, aber dann hängt es von der auditiven Merkfähigkeit ab, wie viele Elemente man behält, ohne dass man doch zum Stift greift. Und der Sportunterricht wird keine guten Athleten hervorbringen, wenn er „visuellen Typen“ alles nur grafisch und ohne Bewegung erläutert.
Was stattdessen?
Grundsätzlich ist es wesentlich bedeutsamer, bedeutungshaltig zu lernen. Das gelingt dann am ehesten, wenn ich vorhandenes Wissen aktiviere und neue Inhalte exploriere, sie von allen Seiten beleuchte, frage, wie ich den Inhalt in meinem vorhandenen Wissen einsortiere, es mit eigenen Worten wiedergebe, auf Fragen von Dritten zum Thema versuche Antworten zu finden, mit dem Wissen neue Fragestellungen ausprobiere usw.
All das steigert die Verarbeitungstiefe von Information. Und will der Lehrer es richtig gut machen, dann spricht er die Emotionen der Schüler an, denn es sind unsere Gefühle, die dafür sorgen, dass man etwas lang behält.
Daniel Willingham, Psychologie-Professor an der University of Virginia, schreibt es auf der Internetseite der American Educator treffend:
„Children probably do differ in how good their visual and auditory memories are, but in most situations, it makes little difference in the classroom.”
Kinder unterscheiden sich also vermutlich in der Tat in ihren auditiven oder visuellen Merkfähigkeiten (insofern lassen sich „Typen“ benennen), es macht im Klassenraum aber keinen Unterschied im Lernerfolg aus. Und so sollte der Unterricht auch nicht nach Lerntypen erfolgen, sondern anregend sein, aktiv und entdeckend, weil diese Unterrichtsmerkmale unmittelbar einen Effekt auf den Lernerfolg aufweisen. Und dafür werden alle Sinne gebraucht.