Drei Viertel der Eltern unzufrieden mit Corona-Aufholprogramm
Im Mai 2021 stellte die Bundesregierung den Ländern zwei Milliarden Euro zur Verfügung, damit Kinder und Jugendliche Versäumnisse aus der Zeit der Schulschließungen aufholen können. Aber bei den Familien kommt bisher wenig davon an, die Unzufriedenheit mit den Aufholangeboten ist groß – zumal viele Kinder deutliche Lernrückstände haben. Das zeigt eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts forsa von Januar 2022 unter 1.026 Müttern und Vätern im Auftrag des Studienkreises.
Rund die Hälfte der befragten Eltern glaubt, dass ihr Kind Lernrückstände aus den pandemiebedingten Schulschließungen hat. Je nach Schulfach vermuten zwischen 20 und 29 Prozent der Befragten bei ihren Kindern sogar große oder sehr große Lernrückstände. Eine greifbare Rückmeldung zum Lernstand haben viele Familien nun erstmals mit dem Halbjahreszeugnis 2022 erhalten. Seit Beginn der Pandemie sind diese Zeugnisse die ersten, denen ein komplettes Halbjahr mit Präsenzunterricht vorausgegangen ist – deshalb sind sie besonders aussagekräftig.
Trotz Lernrückständen kaum Förderung
Mit speziellen Aufholprogrammen wollen die Bundesländer Förderung für Kinder und Jugendliche finanzieren, die während der Pandemie beim Lernen zurückgefallen sind. Aber nur 26 Prozent der befragten Eltern kannten solch ein Förderprogramm in ihrer Region, darunter fünf Prozent, deren Kinder das Angebot selbst wahrnehmen. Entsprechend hoch ist die Unzufriedenheit der Eltern mit den Aufholprogrammen: 74 Prozent der befragten Mütter und Väter halten die politischen Maßnahmen nicht für ausreichend, um coronabedingte Lernlücken zu schließen. In Hamburg wollte der Studienkreis von Schülerinnen, Schülern und ihren Eltern in einer Straßenumfrage wissen, ob die Schulen und die Politik ihrer Meinung nach genug tun, damit Kinder und Jugendliche pandemiebedingte Lernrückstände aufholen können.
Schulen auf Förderangebote ansprechen
„Offenbar gehen die Eltern davon aus, dass sie Informationen über Förderangebote von der Schule bekommen“, erklärt Max Kade, Pädagogischer Leiter des Studienkreises. „Es lohnt sich aber, wenn Eltern von betroffenen Kindern selbst bei der Schule nachfragen.“ Es kann viele Gründe haben, warum Familien noch keine Informationen darüber erhalten haben, wie die Aufholprogramme umgesetzt werden. In einigen Ländern laufen die Fördermaßnahmen gerade erst an, viele haben zunächst Vergleichsarbeiten durchgeführt, um betroffene Kinder und Jugendliche zu identifizieren und den Förderbedarf einzuschätzen. In vielen Fällen sprechen die Schulen möglicherweise die Eltern betroffener Kinder direkt an, so dass die übrigen nichts davon mitbekommen. Diese Übersicht des Studienkreises zeigt, wie die Länder ihre Corona-Aufholprogramme umsetzen und wie Eltern selbst aktiv werden können.
Bildungsgutscheine: häufig auf Nachfrage der Eltern ausgestellt
Zeitnahe Unterstützung können Eltern unter anderem in Bundesländern erwarten, die mit Bildungsgutscheinen arbeiten, um Lernlücken zu schließen. In Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein können Lehrkräfte Kindern mit Lernrückständen Bildungsgutscheine ausstellen. Diese können sie anschließend in einem Nachhilfeinstitut einlösen und dort gezielt den versäumten Stoff nachholen. Wie das Gutscheinsystem in Schleswig-Holstein funktioniert und wer es in Anspruch nimmt, erzählt Petra Schulmann, Studienkreis-Leiterin in Rendsburg, im Interview auf dem Studienkreis-Blog: „Vor der Pandemie hatten wir viel weniger Kinder aus der Grundschule“.
So groß sind die Lernlücken
Während einige Kinder und Jugendliche den Distanzunterricht – oft mit elterlicher Unterstützung – ohne Schwierigkeiten gemeistert haben, sind andere erheblich zurückgefallen. Die frühere Bildungsministerin Anja Karliczek ging vergangenes Jahr davon aus, 20 bis 25 Prozent der Kinder hätten „vermutlich große Lernrückstände – vielleicht sogar dramatische“. Die Angaben der Eltern in der forsa-Umfrage bestätigen diese Einschätzung. In den Fremdsprachen gehen 29 Prozent davon aus, dass ihr Kind infolge der Schulschließungen große oder sehr große Lernlücken hat. In Mathematik glauben dies 25 Prozent sowie in Deutsch 23 Prozent. In den Naturwissenschaften sind die Lernrückstände nach Elterneinschätzung bei jedem fünften Kind groß oder sehr groß.
Auch auf geringe Lernrückstände achten
Zurecht sollten Aufholprogramme insbesondere Kindern mit großen oder sehr großen Lernlücken helfen, den Anschluss wiederzufinden. Darüber dürften aber nicht diejenigen mit geringeren Lernrückständen übersehen werden, fordert Max Kade. „Der Stoff baut aufeinander auf, deshalb können auch kleine Versäumnisse mit der Zeit zu größeren Rückständen führen.“ Zwischen 23 und 31 Prozent der von forsa befragten Eltern vermuteten bei ihren Kindern geringere Lernrückstände: mit 31 Prozent ist das Fach Deutsch hier am höchsten vertreten, danach folgen Mathematik und Naturwissenschaften mit je 29 Prozent. 23 Prozent der Eltern vermuteten zudem geringe Lernlücken bei ihrem Kind in den Fremdsprachen.
Nach Ergebnissen in Vergleichsarbeiten fragen
Eine genauere Einschätzung der Rückstände geben in vielen Bundesländern die Ergebnisse von Vergleichsarbeiten, die in den letzten Monaten geschrieben wurden. Eltern sollten bei den Lehrkräften – zum Beispiel im Lernentwicklungsgespräch – gezielt nach den Ergebnissen ihrer Kinder fragen und sich bei Bedarf über Fördermaßnahmen verständigen.
Lieber langsam und kontinuierlich aufholen
Viele Eltern möchten ihre Kinder direkt unterstützen, wissen aber nicht, wie. Informationen und Hilfestellung bieten die kostenlosen Eltern-Webinare des Studienkreises. Wichtig ist beim Aufarbeiten von versäumtem Stoff vor allem, den Blick nicht nur auf die nächsten Wochen oder die nächste Klassenarbeit zu richten. Zudem haben die Kinder nicht nur Lernstoff verpasst, sondern auch psychisch unter der Pandemie gelitten. Deshalb gilt: lieber langsam und kontinuierlich aufholen, anstatt jetzt das doppelte Pensum durchzuarbeiten. Bis zum Ende des Schuljahres bleibt noch viel Zeit zum Üben und Aufholen. Viele Bundesländer haben zudem bereits angekündigt, dass die Corona-Aufholprogramme noch bis mindestens Mitte 2023 weiterlaufen.